Der Begriff der anonymen Skulpturen wurde 1969 vom deutschen Künstlerehepaar Bernd und Hilla Becher geprägt. Für sie stellt das betont sachliche Foto einen Ersatz für diese anonymen Skulpturen dar, welche im Jahr 1990 im Fokus der 44. Biennale von Venedig standen. Die typologisch geordneten Fotografien wurden von der internationalen Jury als Skulpturen wahrgenommen und so kam es, dass dem Künstlerehepaar Becher der goldene Löwe für Skulptur übergeben wurde.
Eine der ersten Ausstellungen, in der Bernd und Hilla Becher ihre Fotografien in Serien präsentierten, fand im Jahre 1965 unter dem Titel Anonyme Architektur in der Galerie Pro in Bad Gadesberg statt.[1] Der Begriff der anonymen Skulpturen wurde vier Jahre später, anlässlich der Ausstellung Anonyme Skulpturen. Formvergleiche industrieller Bauten in der städtischen Kunsthalle in Düsseldorf, geprägt. Das Ziel des Titels bestand in der Anregung, diese fotografierte anonyme Industriearchitektur so zu betrachten, als sei sie eine dargestellte Skulptur.
1972 brachte Carl Andre in seinem Artikel A Note on Bernhard and Hilla Becher in der Zeitschrift Artforum das Künstlerehepaar Becher erstmals mit der Minimal und Concept Art in Verbindung.[2] Andre erkannte in dem typologischen Anliegen ihres Werkes erstmals einen Zusammenhang mit der seriellen Arbeitsweise und Formanalyse der zuvor genannten Kunstrichtungen. Er bezog sich in seinem kurzen Text als einer der Ersten auf den systematischen Ansatz des Künstlerehepaares, indem er das von ihnen angewendete Prinzip der vergleichenden Gegenüberstellung formverwandter Industriebauten eindringlich aufzeigte. Wie das Künstlerehepaar zu dieser Zeit selbst ihre Arbeit sah, wurde in dem Artikel von Andre, der Hilla Becher folgendermaßen zitierte, ersichtlich:
“The question if this is a work of art or not is not very interesting for us. […] Anyway the audience which is interested in art would be the most open-minded and willing to think about it.”
Anonyme Skulpturen – Der Ausdruck anonym bezeichnet im Falle der Industrieobjekte den unbekannten Erbauer, welcher weniger die äußerlichen Qualitäten als die optimale Erfüllung der Funktion in den Vordergrund stellt; es handelt sich hierbei um das Verhältnis Ästhetik versus Funktion. Mit Skulptur ist eine der klassischen Kategorien der bildenden Kunst angesprochen. Bernd und Hilla Becher produzierten in ihrem Werk jedoch keine Skulpturen im herkömmlichen Sinn, sondern fotografierten lediglich diese Objekte. Hierbei stellt sich die Frage, ob die tatsächlichen Architekturen anonymen Skulpturen entsprechen oder erst die Fotografie diese dreidimensionalen Objekte in anonyme Skulpturen transformiert? Thierry de Duve verglich in seinem Essay die Arbeiten des Künstlerehepaares mit folgendem Zeilenpaar von Shakespeare: „Was ist ein Name? Was uns Rose heißt. / Wie es auch hieße, würde lieblich duften.“[3] Es besteht nach Duve kein Zweifel, dass diese Industrieobjekte mit ihrer neuen Bezeichnung lieblicher duften, denn sie riechen nach Kunst.[4] Indem Bernd und Hilla Becher die Objekte anonyme Skulpturen nannten, verschlossen sie sich gegenüber der Verantwortung, dass sie die Autoren der Skulpturen wären, und schufen damit einen neuen Kosmos des Skulpturalen — „to take a sculpture“ statt „to make a sculpture“.[5]
Das Künstlerehepaar Becher sah ihre fotografierte Industriearchitektur als eigenständige Objekte an, die im Zentrum ihrer Arbeit standen. Entscheidend ist hierbei die Art und Weise, wie diese anonymen Skulpturen ins Bild gesetzt wurden.[6] Das Objekt befand sich im Zentrum ihrer Plattenkamera, ohne jegliche Verzerrung der Perspektive, meist frontal, ohne Unter- oder Aufsicht, aufgenommen bei möglichst wolkenlosem Himmel, ohne Schatten in diffusem Licht und ohne Menschen. Alle Abbildungen sind in Schwarz-Weiß fotografiert, da die Farbe laut eigener Aussage beider Künstler von den plastischen Formen ablenken würde und die Objekte so in einer ruhigen Klarheit erscheinen. Bernd und Hilla Becher schufen Familien von Objekten, welche auf die Vergleichbarkeit von Ähnlichem zielten und dadurch dem Rezipienten die Möglichkeit der genaueren Differenzierung von scheinbar Gleichem, das erst im Nebeneinander seinen eigenen Charakter entfaltet, bietet.[7]
Im Mittelpunkt der Arbeiten des Künstlerehepaares Becher steht das Objekt und nicht die Fotografie, welche beispielsweise ein Motiv einer Industrielandschaft einfängt. Für sie ist das betont sachliche Foto ein Ersatz für diese Bauten, die anonymen Skulpturen, und als Bild im herkömmlichen Sinne unbrauchbar.
(Auszug aus der Proseminararbeit von Marlene Obermayer (2011): Architektur? Skulptur? Fotografie? Der Versuch einer Kategorisierung der Arbeit von Bernd und Hilla Becher bei MMag. Karin Eckstein)
[1] Gerald Schröder, Positionsbestimmungen. Zur Rezeption der Fotografien von Bernd und Hilla Becher in der Bundesrepublik Deutschland von 1965 bis 1990, in: Werner Lippert/ Christoph Schaden (Hg.), Der Rote Bulli. Stephen Shore und die neue Düsseldorfer Fotografie (Kat. Ausst., NRW-Forum Kultur und Wirtschaft, Düsseldorf 2010/2011), Düsseldorf 2010, S. 292-325.
[2] Carl Andre, A Note on Bernhard and Hilla Becher, in: Artforum International, 11, 5, 1972, S. 59-61.
[3] William Shakespeare, Romeo und Julia, hg. von Dietrich Klose, übers. von August Wilhelm Schlegel, Stuttgart 2002.
[4] Thierry de Duve, Bernd und Hilla Becher oder die monumentarische Photographie, in: Bernd und Hilla Becher. Grundformen (Kat. Ausst., Dia Center for the Arts, New York 1989/1990), München 1993, S. 7-21. (erstveröff. unter dem Titel: Bernd et Hilla Becher ou la photographie monumentaire, in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne, Nr. 39, 1992, S. 118-129).
[5] Tobia Bezzola, Von der Skulptur in der Fotografie zur Fotografie als Plastik, in: Roxana Marcoci (Hg.), FotoSkulptur. Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute (Kat. Ausst., MOMA, New York 2010; Kunsthaus Zürich, Zürich 2011), Ostfildern 2011, S. 28-35.
[6] Armin Zweite, Bernd und Hilla Bechers Vorschlag für eine Sichtweise. 10 Stichworte, in: Bernd & Hilla Becher, Typologien. Industrieller Bauten (Kat. Ausst., Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 2003), Düsseldorf 2003, S. 13-41.
[7] Wulf Herzogenrath, Bernd und Hilla Becher, in: Luminita Sabau (Hg.), Das Versprechen der Fotografie. Die Sammlung der DG Bank (Kat. Ausst., Hara Museum of Contemporary Art, Tokyo, 1998/ 1999, u.a.), München u.a. 1999, S. 70.
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