Fine Bieler hat mit „A Rolling Stone Gathers No Moss” eine etwa Din A4-große, 12-seitige Künstlerpublikation vorgelegt, die 2015 im Verlag Edizione-Multicolore erschienen ist. Der junge unabhängige Verlag, den sie als künstlerisches Projekt zusammen mit Dana Lorenz betreibt, kommt aus Leipzig und dort, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, hat Fine Bieler auch Fotografie studiert. Ihre Bilder sind überwiegend dokumentarisch und wirken unaufdringlich. Sie hinterfragt mit ihren Arbeiten Klischees und gesellschaftliche sowie politische Zusammenhänge und Normen.
„A Rolling Stone Gathers No Moss” – übersetzen ließe sich das vielleicht mit dem Sprichwort „Wer rastet, der rostet”. Nun tauchen auf Fine Bielers Fotografien weder Moos noch Rost als Motive auf. Blättert man ihre ungebundene Publikation auf, die aus ineinander gelegten, gefalteten A3-Doppelseiten besteht, so sind auf den Einzelblättern verschiedene eingeschneite Skulpturen und Skulpturengruppen zu erkennen, daneben grobkörnige, vergrößerte Ausschnitte winterlicher Baumgruppen. Die dicke Schicht Schnee, welche die im Freien stehenden Skulpturen bedeckt, lässt einen Eindruck von Bewegungsuntätigkeit aufkommen.
Durch die zumeist mittig platzierten und dick weiß umrandeten Fotografien kommt den Skulpturen zusätzlich etwas Monumentales oder Förmliches zu. Sie stehen alleine, sie sprechen für sich, unumstößlich, kraftvoll. Der waldige Hintergrund, vor dem sie platziert sind, bietet einen weiteren Kontrast, ein weiteres Mittel, ihre Exponiertheit zu betonen. Abgeschwächt wird diese Wirkung nur durch den Schnee: Der Schnee ist es, der ihnen etwas von ihrer Erhabenheit, von ihrer Ernsthaftigkeit nimmt, indem er mancher Skulptur einen Hut zaubert, manch eine Figur lässt er fast ertrinken. Die Skulpturen setzten sich nicht nur unseren Blicken aus, sondern auch den Elementen und plötzlich werden sie von der Natur neu inszeniert, es entsteht ein Bruch mit der intendierten Erhabenheit und Monumentalität und der vorgefundenen Momentaufnahme in der Fotografie.
Die abgedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien zeichnen sich durch ihren Kontrastreichtum aus: Die gesamte Publikation besteht hauptsächlich aus sehr hellen, fast weißen und sehr dunklen, fast schwarzen Grautönen. Auf Text wurde weitgehend verzichtet. Die minimale Gestaltung verleiht der Publikation etwas Zeitloses: Die Aufmachung und Farbigkeit sowie Schriftwahl auf dem Umschlag hätten auch schon vor Jahrzehnten so erscheinen können. Auch der graue Umschlag zeigt eine grobe Körnung, als wäre eine Fotografie stark vergrößert worden. Der Titel ist als zentriert platzierte Serifenschrift in Großbuchstaben gesetzt und enthält ebenjene Struktur; er ist überhaupt nur lesbar durch die etwas helleren Grautöne. Fast wirkt er wie in Stein eingraviert. Durch einen Blick auf die Webseite der Künstlerin erfährt man, dass es sich bei den verschneiten Skulpturen um Monumente aus der Sowjetzeit handelt, darunter Lenin, Stalin sowie einige lokale Politgrößen. Die Figuren stehen seit 1998 in der Region Südlitauens und wurden für die Präsentation in einem Park neu arrangiert.
„Wer rastet, der rostet“ – was rostet, das vergeht mit der Zeit. Diese Skulpturen rosten zwar nicht, doch sie sind der Witterung ausgesetzt, eingeschneit, unkenntlich, fast vergessen. Zwar sind sie durch die Ausstellung weiter öffentlich zugänglich, doch durch den abgelegenen Ort, am Rande eines Waldes, ist ihre Wirkung eine andere als ursprünglich beabsichtigt. Sie sind Zeugen der Vergangenheit und anderer Wertvorstellungen, doch zeitlich und räumlich aus ihrem Kontext herausgelöst, lassen sich ihre Botschaften, ihre mahnenden Gesten nicht mehr einfach deuten, sie werden unverständlich.
Da auf das Einfügen von Seitenzahlen verzichtet wurde und die Publikation keine Bindung hat, können die Leser*innen die Reihenfolge der Doppelseiten im Heft selbst neu arrangieren und so gewissermaßen auch die „Chronik“ oder die „Geschichte“ verändern, ohne dass dies gleich auffallen würde. Vom Umstellen der Seiten bietet sich eine Analogie zum Umstellen der Skulpturen: Beides kann einfach so geschehen bzw. ist einfach so geschehen. Wer besitzt die Ermächtigung dazu? Die Herauslösung aus dem ursprünglichen Kontext, das Umkehren von Ordnungen, kann inhaltlich eine ganz anders Aussage formulieren und somit eine andere Geschichte erzählen. Die Publikation wirft somit auf mehreren Ebenen die Frage nach dem Umgang mit Geschichte, mit den Überresten der Vergangenheit, auf.
Vielleicht hinterlässt „A Rolling Stone Gathers No Moss” aber auch seine feinen Spuren dadurch, dass man dazu angehalten wird mit dem Gesehenen selbst aktiv umzugehen, es einzuordnen, sich seinen Sinn eigenständig zu erschließen. Dann kann diese Publikation auf einmal etwas ganz Besonderes: Sie lässt einen persönlichen Bezug zu, weil man vielleicht mehr an Ausflüge der eigenen Kindheit im winterlichen Wald erinnert wird als an eine mäßig touristische Stätte im südlichen Litauen.
Fine Bieler, „A Rolling Stone Gathers No Moss”, 2015
- Edizione Multicolore, Berlin 2015
- DIN A4, o.P., digitaler Druck
- 1. Edition 20 Stück, 15€ via Edizione Multicolore
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