Anna Gölz: Moritz Frei, „Kunstwerke des Tages: ein fotografisches Archiv“, 2018 (Kurztext 4, Universität Hildesheim, Dozentin: Regine Ehleiter)

„Er versteht keine Politik und von Kunst schon gar nichts. Irgendjemand hat ihm wohl den Floh ins Ohr gesetzt, dass es Kunst wäre, wenn man den Deckel eines Milch-Tetrapaks nach oben stellt. Und dann gibt es Leute, die kaufen ein Buch für 24 €, um sich das ‚Kunstwerk‘ als Foto anzuschauen.” Diese drollig bornierte Zusammenfassung des Internetnutzers Mario A. postete der Berliner Künstler Moritz Frei zur Ankündigung seines neuen Künstlerbuchs „Kunstwerke des Tages“ auf Instagram. Ursprünglich erschien der Kommentar auf einem rechten Hetzblog – eine Reaktion auf die Absage Moritz Freis zusammen mit dem AFD-Sympathisanten Axel Krause 2019 an der Leipziger Jahresausstellung teilzunehmen.

Moritz Frei studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie. Mit seinen Arbeiten hinterfragt er gesellschaftliche Gewohnheiten und Zusammenhänge, die sich oft schon in Kleinigkeiten, in unscheinbaren Objekten und deren Gebrauch manifestieren.

Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren produzierte Moritz Frei täglich ein „Kunstwerk” und veröffentlichte schließlich das so entstandene „fotografische Archiv“ als Künstlerbuch in seinem Verlag berlinartbooks, es ist auch eine englische Version unter dem Titel „Artworks of the Dayverkäuflich. Seine Fotostrecke eröffnet mit dem von Mario A. beschriebenen Bild eines Milchkartons, der an der Ecke aufgeschnitten wurde, anstatt den Inhalt durch die dafür vorgesehene Öffnung auszukippen. Es zeigt eine Art Revolte im Kleinen und trägt den Titel „Fuck the system“. Eine andere Fotografie, sie ist auch auf dem Cover der deutschen Version abgebildet, findet eine humorvolle visuelle Metapher für den „Sozialismus”: Garniert auf DDR-typischem Porzellan zeigt der Künstler hier elf parallel ausgerichtete, gleich aussehende Küchenmesser mit gelben Griff, die eng nebeneinander gedrängt in eine einzige ungeschälte Karotte einschneiden.

Für die Publikation bedient sich Moritz Frei eines schlichten Layouts: Auf der jeweils rechten Hälfte einer Doppelseite ist ein weiß umrandetes Bild abgedruckt, auf der linken Seite ist der Titel zu lesen. Querformatige Bilder sind so gesetzt, sodass man das Buch einmal um 90 Grad drehen muss, um sie genauer anzusehen. Die Farbigkeit und Qualität des verwendeten Digitaldrucks unterstreichen den alltäglichen Charakter der Objekte, bei denen es sich häufig um (massenhaft produzierte) Konsumartikel des täglichen Bedarfs handelt.

Die „Kunstwerke des Tages“ dokumentieren die kleinen Absurditäten des Alltags und präsentieren nicht selten Momente, in denen es scheint, als hätten sich Objekte aus Rache, purem Unmut oder Frust gegen „das System”, ihre eigene Witzlosigkeit oder ihr ödes Dasein als praktisches Funktionsobjekt aufgelehnt. Manch eine Zuschreibung wird hier aufs Korn genommen. Mitunter wirkt das makaber, zum Beispiel, wenn „Nest” – die Arbeit ist auf dem Cover der englischen Version abgebildet – eine vom Künstler arrangierte, bedrohliche Ansammlung roter Chinaböller zeigt, auf der unschuldig zwei braune Hühnereier liegen, oder wenn „Das Licht am Ende des Tunnels” einen aus dem Autoauspuff herausragenden Vogelschwanz kommentiert.

Auch Verweise auf Kunstgeschichte und Popkultur lassen sich finden: So fotografierte Moritz Frei durch ein Fenster den leicht bewölkten Himmel und ergänzte auf der unsichtbaren Bildebene der Fensterscheibe zwei künstliche Wolken aus Rasierschaum. Das absurde Ensemble deklarierte er als „Rasurwetter”. Hier muss man einfach an René Magritte denken – nur, dass die Szene fotografiert statt gemalt ist und scheinbar näher an die Wirklichkeit heranrückt. „Ladri di biciclette” nimmt schon im Titel ausdrücklich Bezug auf einen italienischen Filmklassiker über Fahrraddiebe aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – und tatsächlich, im übertragenen Sinne zeigt das Foto genau das: Die Fahrradsymbole, aufgemalt auf mehrere Gehwegplatten, sind unvollständig, wurden entwendet oder mit grauen Platten ersetzt. Zwischendurch taucht immer wieder Klopapier auf, ein verständlicherweise beliebter Gegenstand für Raummodifikationen. Hatten wir nicht alle schon einmal Lust, diesem zu einer Aufwertung seiner tristen Existenz zu verhelfen?

Nach diesem Prinzip stellt jedes der „Kunstwerke des Tages“ sich selbst und die menschliche Unmöglichkeit zur Perfektion sowie zu einer widerspruchsfreien Welt aus. Dabei nimmt Moritz Frei häufig Zufälligkeiten, wie den eingangs erwähnten Kommentar von Mario A., in sein humorvolles künstlerisches Universum auf, manchmal reicht dabei schon eine Setzung oder die Herauslösung aus der gewohnten Umgebung. Diese Publikation ist also sicherlich mehr als ein einfaches Buch, es ist auch mehr als eine zusammenhanglose Sammlung von Fotografien: Durch die raffinierte Kombination von Text und Bild wird es selbst zum Kunstwerk, voll bissiger Ironie und Kritik.


Moritz Frei, „Kunstwerke des Tages: ein fotografisches Archiv“

  • Hardcover, 154 x 215 mm, 216 Seiten
  • Digitaldruck, Deckenband, Fadenheftung
  • ISBN 978-3-9819301-0-8, 24€ via berlinartbooks

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