Der Faden als Bedeutungsträger. Die „pictorial weavings“ von Anni Albers | Teil II (hier geht es zu Teil I)
Die signifikantesten und spannendsten Veränderungen in der Kunst von Anni Albers finden ab den 1950er-Jahren statt. Albers’ Arbeiten aus dieser Zeit reflektieren ihr Interesse an der visuellen Zeichensprache der andinen Völker, welches sich auch im verkleinerten Format ihrer Textilien ausdrückt. Dies kann als direkte Reaktion auf die kleinen schmalen andinen Textilien gesehen werden, die auf einem sogenannten Rückenband-Webgerät gemacht wurden.[1] Des Weiteren war sie auch davon überzeugt, dass die andinen Webstücke Botschaften enthalten und neben Höhlenmalerei zu den frühesten Vermittlern von Botschaften gehören würden.[2] Zudem schreibt sie:
„In Peru, where no written language in the generally understood sense had developed even by the time of the Conquest in the sixteenth century, we find – to my mind not in spite of this but because of it – one of the highest textile cultures we have come to know.“[3]
Das bedeutende Webstück Black-White-Gold I aus dem Jahr 1950 stellt den Beginn von Albers’ kalligraphischen Bildwebereien dar, die sie interessanterweise nach einer Unterbrechung von mehr als zehn Jahren wieder in den 1960er-Jahren in unterschiedlichen Variationen weiterführt. Eine wesentliche Veränderung vollzieht sich in Hinsicht auf das neue kleine Format ihrer Werke – die sie zum Großteil auf dem sogenannten Rückenband-Webstuhl anfertigte – und ihre Signatur mit den Großbuchstaben AA, welche die „Leserichtung“ des Webstückes kennzeichnet. Die geringe Dichte der Webarbeit Black-White-Gold I ermöglicht es, die Fäden aus Baumwolle, Jute und goldfarbiger Metallschnur einzeln wahrzunehmen. Auf dem schwarz-weiß-goldenen Mittelteil des Webstückes, den Albers in einer einfachen Leinwandbildung webt, bewegen sich schwarze und weiße zusätzliche Schussfäden, die in eckig verlaufenden, teilweise geknoteten Linien eine schriftähnliche Struktur formen. Hier kann Troy zugestimmt werden, die der Ansicht ist, dass die geknoteten Abschnitte in den Schussfäden an das Aufzeichnungsmittel der Inka, das Quipu, erinnert.[4] In einem Interview aus dem Jahr 1985 zeigt sich Albers von der trickreichen Mathematik dieser Knotenschnüre zutiefst beeindruckt:
„[…] They didn’t have writing, as I told you. But what they did [have] was threads … called quipus, this instrument. And the different things that they had to deliver were designated on each thread. […]“[5]
Interessant ist, dass die Knoten in der Kultur der Inka für Zahlen standen und die verschiedenfarbigen Wollschnüre wiederum, je nach Anordnung der Knoten, eine bestimmte Bedeutung trugen.[6] Das Quipu besteht aus Baumwoll- und Wollfäden, die gefärbt, gesponnen, verdreht und an verschiedenen Stellen geknotet sind und unabhängig von Sprache – Wissen speicherten und vermittelten. Boone betont: „Our inability to read them should not, however, make us unable to see them as a writing system.“[7] Quipus funktionieren semasiologisch, aber anders als das mesoamerikanische Bildsystem sind ihre Elemente konventionell – anstatt bildlich – zu sehen. Die Information wird mithilfe der Farbe, Textur, Form und Größe der Fäden und Knoten übermittelt, jedoch werden keine Ideen verbildlicht. Das Quipu kann auch als mathematisches und wissenschaftliches Aufzeichnungssystem gesehen werden, vergleichbar mit dem Aufzeichnen von Musik in Notenschrift, wo willkürlich kodifizierte Symbole gemäß ihrer Beziehung eine Bedeutung bekommen.[8] Ein weiteres wichtiges Kommunikationsmittel war eine geometrische Wort- und Zeichenschrift der alten Peruaner, die dank der mehrjährigen Forschung von Thomas S. Barthelbereits im Jahr 1970 zum Teil entschlüsselt werden konnte.[9] Diese Schrift bestand aus mehr als 400 farbig angelegten geometrischen Zeichen, die er auf Gefäßen und Gewändern, insbesondere auf Tuniken entdeckte. Die Bildsprache der Anden und vor allem der Inka basierte auf geometrischen Mustern, die in einem strengen und gleichförmigen Gefüge angebracht wurden.[10] Der Anthropologe Michael Coe eröffnet das erste Kapitel seines Buches Breaking the Maya Code mit dem Statement: “Writing is speech put into visible form […]“[11] Diese Definition inkludiert zwar die Hieroglyphen der Maya schließt jedoch das Bildsystem der Azteken und Mixteken aus. Zu Unrecht lehnt der Sinologe John DeFrancis diese höchst entwickelte piktographische Technik als „limited, dead end means of communication“ ab, ordnet dieses Kommunikationsmittel in die Kategorie des „nonwriting“ ein und bezeichnet die Benutzer dieses piktographischen Systems als „living in culturally limited societies.“[12] Seine zentrale These besagt, dass alle vollständigen Kommunikationssysteme auf Sprache basieren.[13] Laut Boone ist es an der Zeit, dass wir realisieren, dass dies ein ungerechtfertigtes Vorurteil einer westlichen Gesellschaft mit begrenzter Sichtweise ist.
Anni Albers würde – ebenso wie es Boone tut – der These von DeFrancis keineswegs zustimmen. Ihrer Meinung nach entfaltete sich in Südamerika – gerade weil es keine Sprache im herkömmlichen Sinne gab – eine der höchst entwickelten Textilkulturen.[14] Jedes dieser abstrakten bildhaften Elemente steht als Symbol für ein generelles Konzept, wobei die alleinige Zusammensetzung nichts über den Bedeutungsinhalt verrät. Dies wird ganz besonders in ihren Bildwebereien Two aus dem Jahre 1952 und Pictographic, entstanden ein Jahr später, hervorgehoben, in denen sie sich in abstrakter Weise mit dieser Bilderschrift auseinandersetzt. Während sie bei Ancient Writing diese piktographischen Zeichen noch sehr bedacht und spärlich einsetzt, füllt sie in Pictographic den gesamten Bereich des Textils damit aus. Als Betrachter gerät man in Versuchung, diese „geheime Botschaft“ entziffern zu wollen, jedoch findet man leider keinerlei Anhaltpunkte, die etwas über den Inhalt verraten könnten. Ähnlich dürfte es Anni Albers selbst ergangen sein, da zu ihrer Zeit am Black Mountain College die Hieroglyphen der Maya ein ungelöstes Rätsel waren.[15] Sie stellten für sie wohl eine geheime Nachricht dar, mehr als 1000 Jahre alt; so können ihre Bildwebereien möglicherweise als eine direkte Reaktion auf das Kommunikationssystem der Anden interpretiert werden.
Troy folgend sah Anni Albers spätestens in den 1950er-Jahren die königlichen Tocapu-Tuniken der Inka.[16] Das Quechua Wort „Tocapu“ meint rechteckige, abstrakte geometrische Formen auf Textilien, Keramikgefäßen und hölzernen Trinkbechern, die je nach Position und Anordnung Ideogramme für Worte oder Konzepte darstellen.[17] Jedes Tocapu ist eine eigenständige Einheit, welche im Falle der Tuniken linear im Mittelstück oder in einem Raster auf dem gesamten Textil angeordnet werden kann. Bei zeremoniellen Anlässen demarkierten diese abstrakten Muster in den Textilien vermutlich den ethischen, politischen oder religiösen Status des Trägers.[18] Als Beispiel kann hier die bereits erwähnte Tocapu-Tunika aus der Sammlung der Dumbarton Oaks Research Library and Collection genannt werden, die aus der Zeit der Inka stammt.[19] Es ist ein außerordentlich fein gewebtes Textil, das auf jeder Seite mindestens 21 divergente Tocapus in den verschiedensten leuchtenden Farben aufweist.[20] Mehrere programmatische Bildwebereien aus den 1950er-Jahren zeigen, dass Anni Albers immer wieder auf das Raster, das Format und die semantische Funktion dieser andinen Tuniken sowie auf die Lehren von Paul Klee zurückgriff. Eines von Klees Gestaltungsprinzipien besteht aus dem Vermehren durch Schiebung oder Wiederholung quer über das Blatt oder nach unten, Verschiebung oder Wiederholung mit Unterbrechungen, Spiegelung und Drehung.[21] Durch diese Prinzipien lassen sich in kurzer Zeit komplexe Anordnungen realisieren. Höchstwahrscheinlich erkannte Albers in den Tocapu-Tuniken die Lehre Klees wieder, da sich die Muster mindestens einmal durch Verschiebung, Spiegelung oder Drehung wiederholen oder Figur und Grund vertauscht sind. In ihrer neuen Heimat konnte Anni Albers ihrer eigenen kreativen Visionen nachgehen und Klee dergestalt für seine Lehre danken, indem sie „auf einer Linie spazieren“ ging und zeigte, was sie in all den Jahren bei ihren Reisen nach Südamerika entdeckt hatte.[22]

Die schwarz-weiße Bildweberei Open Letter aus dem Jahr 1958 soll durch die Verwendung von linearen ideographischen Schriftzeichen und aufgrund des Titels Offener Brief den Betrachter zum „lesen“ veranlassen.[23] Das kleine Format mit rund 59 x 60 cm ist annähernd quadratisch und enthält eine Signatur in der linken unteren Ecke, wodurch die Leserichtung in Richtung der Kettfäden vorgegeben wird. Diese Bildweberei basiert auf einer einfachen Leinwandbindung mit Baumwollfäden, die Gewebevariationen in verschiedenen Bereichen aufweist.[24] Dieses Werk ist ein Paradebeispiel für Anni Albers’ Verwendung von Doppellagen als organisiertes Prinzip in ihren Webarbeiten. Die Kettfäden bestehen aus einer Reihe von zwei weißen Fäden, wobei die erste jeweils ein Spiralfaden ist, gefolgt von zwei schwarzen.[25] Leclerq spricht von zwölf Ketteinheiten oder insgesamt 48 Kettfäden, die in Streifen gleicher Breite eingeteilt sind. Hier muss ihm widersprochen werden, da es sich bei Open Letter um insgesamt 15 Streifen handelt, die sich in Abständen von je vier Zentimeter durch Bänder aus der Leinwandbindung, welche die Breite des Webstückes queren, unterteilen. Auch wenn diese Streifen annähernd unsichtbar sind, bewirken sie ein geometrisches Muster, bei dem sich die beiden Nichtfarben Schwarz und Weiß einander abwechseln. Die vielen Gewebevariationen in dieser Bildweberei werden durch verschiedene Kombinationen unterschiedlicher Typen, Texturen und Farben der Schuss- und Kettfäden kreiert. Bei diesem Stück lohnt es sich, genauer hinzusehen, denn Albers verwendet auch hier weiße, schwarze und rote zusätzliche Schussfäden. Der rote Zierfaden taucht zwar nur fünf Mal – von links gezählt – in der fünften, neunten sowie zwölften bis dreizehnten Reihe auf, jedoch verleiht gerade dieser farbliche Akzent dem Stück eine besondere Ausdruckskraft – quasi einen roten Faden, der sich durch das gesamte Werk zieht. Die schwarzen und weißen Schussfäden sind in der Leinwandbindung mit einer der Ketten eingewebt, wodurch die visuelle Unterscheidung zwischen Grundschiffchen und zusätzlichem Brokatschiffchen verwischt. Jedes Rechteck fügt sich eng an seinen Nachbarn und weist eine komplexe Musterung auf, was die Bildweberei wie einen kompakt beschriebenen Brief wirken lässt.[26] Albers schuf bei Open Letter eine Komposition aus einzelnen Musterelementen, die bei genauerer Betrachtung durch die Anordnung von visuellen Informationen Inhalt und Bedeutung zu vermitteln scheinen. Sie sah Parallelen zwischen diesen Sujets und dem andinen Textilmuster der Tocapu-Tuniken und wollte – wie sie im einleitenden Zitat im Ausstellungskatalog Pictorial Weavings aus dem Jahr 1959 betont – eine Möglichkeit finden, den Fäden wieder eine Ausdrucksqualität zu verleihen.[27] Viele der Arbeiten, die sie in der gleichnamigen Wanderausstellung präsentierte, sind dahin gehend bemerkenswert, da alle in technischer, bildlicher und ideographischer Hinsicht einen Bezug zum andinen Grundmuster herstellen.[28] An dieser Stelle muss deutlich erwähnt werden, dass sich Albers zwar auf die Tuniken mit den Tocapu-Musterungen stützt, ihre Zeichen jedoch keine direkten Informationen enthalten und für den Betrachter des Textils abstrakte Piktogramme bleiben, die nicht entziffert werden können. Die Bildweberei Open Letter gibt einen Aufschluss über die zahlreichen Variationen dieser Muster und zeigt, wie sich Anni Albers hinsichtlich der Formensprache ihrer Arbeiten weiterentwickelte. Bei ihren Bildwebereien aus dieser Zeit stellen die Strukturen selbst ideographische Funktionen dar, wobei der spielerischer Umgang mit den Materialien ihre hohe Kenntnis der Materialeigenschaften und -möglichkeiten demonstriert.[29]
[1] Vgl. Troy 2002, S. 130.
[2] Vgl. Albers 1965, S. 68.
[3] Albers 1965, S. 68.
[4] Vgl. Troy 2002, S. 115.
[5] Anni Albers zit. nach Troy 1999, S. 32.
[6] Vgl. Anton 1984, S. 189-190. Laut Anton brachte der Spanier Pedro Cieza de León in Erfahrung, dass die Knoten für die Zahlen 1-1000 standen. Die Knotenschnüre konnten nur von einem Quipu-Deuter entziffert werden und waren statische Rechensysteme, die laut Anton mit einer Schrift im herkömmlichen Sinne nicht verglichen werden können.
[7] Boone 1994, S. 21.
[8] Ebd., S. 22.
[9] Vgl. Barthel 1970, S. 239-242. Barthel gelang es, diese Zeichen in einem gewissen Umfang zu interpretieren und er betont: „Alt-Peru weiterhin als eine ‚frühe Hochkultur ohne jegliche Schrift’ abzustempeln, dürfte jedenfalls künftig schwierig sein.“
[10] Vgl. Calonder / Rickenbach 2010, S.352.
[11] Michael Coe zit. nach Boone 1994, S. 5.
[12] DeFrancis zit. nach Boone 1994, S. 8-9.
[13] Vgl. Boone 1994, S. 5.
[14] Vgl. Albers 1965, S. 68.
[15] Vgl. Houston 1994, S. 136.
[16] Vgl. Troy 2002, S. 153.
[17] Vgl. Cummins 1994, S. 199 und Clados 2011 a, o.P. Tocapus und rechteckige Pre-Inka Motive finden sich auch auf Metall- und Muschelobjekten sowie Steinen. Des Weiteren wurden Metallwaffen gefunden, die Reihen von Tocapus aufweisen.
[18] Vgl. Anton 1984, S. 210-211. Im Gegensatz zu der Tunika eines Kriegers (Abb. 30), die in leuchtenden Farben gefertigt ist und ein Schachbrettmuster als Erkennungsmerkmal aufweist, ist der einfache Männerumhang (Abb. 31) meist in beigefarbener oder brauner Baumwolle produziert worden.
[19] Anm.: ca. 1450 bis 1534 n. Chr.
[20] Vgl. Clados 2011 b, o.P. Dank der umfangreichen Datenbank des Tocapu Drawings Database Projektes und zahlreichen Zeichnungen von Christiane Clados ist es möglich, die Tocapus in ihrer Vielfalt im Detail zu betrachten.
[21] Vgl. Anger 2007, S. 155-156.
[22] Vgl. Anger 2007, S. 158-159.
[23] Vgl. Troy 2002, S. 155.
[24] Vgl. Leclerq 1999, S. 69
[25] Ebd., S. 69. So besteht die Ketteinheit aus vier Fäden, wobei sich die ersten beiden durch kontrastierendes Material von den zwei weiteren unterscheiden. Daraus ergibt sich dieses aufwendig gestaltete zweilagige Webstück.
[26] Vgl. Ardjah, S. 155. Anm.: Bei der Bildweberei Open Letter fällt auf, dass Albers auf die gleichen Farben zurückgreift, die auf der Tunika eines Kriegers (Abb. 30) zu finden sind.
[27] Albers 1959, o.P. Im gleichen Jahr veröffentlicht Anni Albers ihr erstes Buch On Designing. Es handelt sich hierbei um eine Aufsatzsammlung mit einigen Abbildungen. In dieser Arbeit wird die erweiterte zweite Auflage verwendet, die 1962 erschien.
[28] Kat. Ausst. The Massachusetts Institute of Technology, Cambridge 1959, o.P.
[29] Vgl. Troy 2002, S. 153-155.