Der Faden als Bedeutungsträger. Die „pictorial weavings“ von Anni Albers | Teil I

Anni Albers, 1947 © 1947 Nancy Newhall. © 2003 The Estate of Beaumont Newhall and Nancy Newhall, Courtesy of Scheinbaum and Russek Ltd., Santa Fe, New Mexico.
Anni Albers, 1947
© 1947 Nancy Newhall. © 2003 The Estate of Beaumont Newhall and Nancy Newhall,
Courtesy of Scheinbaum and Russek Ltd., Santa Fe, New Mexico.

Anni Albers war eine Künstlerin und Designerin, die bis in die späten 1960er-Jahre Textilien als ihr künstlerisches Ausdrucksmittel wählte.[1] Zudem betätigte sie sich als Schriftstellerin und Lehrerin; außerdem war sie die Frau des berühmten Künstlers und Bauhauslehrers Josef Albers. [2] Anni Albers’ frühe Werke aus der Bauhauszeit zeigen, dass sie eine Formensprache entwickelte, die sich dem Ziel des Bauhauses an Form und Gestaltung am ehesten näherte. Reduzierte Kompositionen wurden von ihr auf den Wandbehängen in einer klar erkennbaren Ordnung sowie in verschiedenen Variationen Zeile für Zeile neu zusammengesetzt. Des Weiteren entwickelte Anni Albers neuartige Doppel- und Dreifachgewebe, deren Fertigung sie sich zuvor in Museen anhand von andinen Webstücken angeeignet hatte. Durch die eingehende Beschäftigung mit den präkolumbianischen Stoffen gewann Albers zudem ein Verständnis dafür, wie eine direkte Kommunikation zwischen Gebrauch und Entwurf sowie zwischen Prozess und Produkt in der Vorzeit auf einfachen Webgeräten erzielt werden konnte – in einer hoch entwickelten Kultur, die nicht über konventionelle westliche Schreibsysteme verfügte und in der zur Kommunikation von Ideen Symbole benutzt wurden.[3] Nach der Schließung des Bauhauses ermöglichte die Auswanderung in die Vereinigten Staaten im Jahr 1933 dem Künstlerehepaar Anni und Josef Albers die direkte Begegnung mit der Kunst Lateinamerikas, die sie auf ihren insgesamt 14 Reisen zwischen 1935 und 1967 erkundeten. Das direkte Erleben der imposanten Größe der Ruinen der altamerikanischen Kulturen war für beide Künstler ein einschneidendes Erlebnis: Mexiko ist wahrlich das gelobte Land der abstrakten Kunst.“[4] Bereits im Jahr 1949 widmete ihr das Museum of Modern Art in New York als erster Weberin der Geschichte eine Einzelausstellung. Mit einer Ausstellung in ihrer alten Heimat Deutschland musste Anni Albers allerdings noch 25 Jahre warten; erst im Jahr 1975 würdigte das Kunstmuseum Düsseldorf ihre Arbeiten in der ersten Einzelausstellung, die seit ihrer Bauhauszeit und Emigration in die USA in Europa stattfand.[5]

“[…] To let threads be articulate again

and find a form for themselves to no other end

than their own orchestration,

not to be sat on, walked on,

only to be looked at,

is the raison d’être of my pictorial weavings.”[6]

In diesem Zitat spricht Anni Albers davon, den Fäden wieder zu gestatten, sich miteinander zu verbinden und eine Form zu finden, die auf nichts anderes als ihre eigene Instrumentation hinausläuft. In den Jahren am Black Mountain College und im Zuge der unzähligen Reisen nach Südamerika begann Albers langsam damit, aus den Fäden kunstvolle Bildgewebe herzustellen.[7] Unmittelbar nach ihrem ersten Besuch in Mexiko im Jahr 1935 fanden tief greifende Veränderungen in der Weberei von Anni Albers statt. Es wurde für sie klar, dass sie mit den Webern des alten Peru aufgrund ihrer komplexen Konstruktionen sowie ihren schlichten Designs durch eine Art Seelenverwandtschaft verbunden war, die in ihren Webarbeiten zum Ausdruck kommt.[8]

Anni Albers, Ancient Writing, 1936, Kunstseide, Leinen, Baumwolle, Jute, 149,8 x 111 cm, National Museum of American Art, Smithsonian Institution, Washington, D.C.
Anni Albers, Ancient Writing, 1936, Kunstseide, Leinen, Baumwolle, Jute, 149,8 x 111 cm, National Museum of American Art, Smithsonian Institution, Washington, D.C.

Während sich die Formen auf den früher entstandenen Webarbeiten am Bauhaus an ihren Platz fügen und einer sichtbaren Ordnung und Symmetrie folgten finden sich die Anordnungen wie beispielsweise in dem Werk Ancient Writing von 1936 in einer spielerischen Komposition wieder.[9] Dieses Werk ist zudem auch aufgrund der Webtechnik, die Anni Albers zum ersten Mal anwandte, als Schlüsselwerk für ihr weiteres Schaffen zu betrachten.[10] Es handelt sich dabei um das Weben mit einem zusätzlichen Zierfaden oder auch „schwebenden Schuss“, wie ihn Virginia Gardner Troy nennt.[11] Da dieser Schuss keiner strukturellen Zweckbestimmung dient, kann er an einer beliebigen Stelle eingefädelt werden und die gewebten Bereiche arbiträr durchqueren.[12] Dass für Albers die Struktur weiterhin eine entscheidende Bedeutung besaß, zeigen die zahlreichen Webschichten, von denen sich nur einige wenige Bindungen wiederholen. Als Material für den hochrechteckigen Wandbehang wählte Albers Kunstseide, Leinen, Baumwolle und Jute; die Farbwahl reduziert sich auf Beige- und Schwarztöne. Das Besondere an diesem Werk ist, dass Albers die hellen Rechtecke und Quadrate mit dem zuvor genannten schwebenden Schuss nachträglich einwob. Des Weiteren verwendete sie zwei verschiedenfarbige Kettfäden, um das dunkle Mittelfeld mit den darauf befindlichen Elementen hervorzuheben.[13] Ganz bewusst setzte sie diese abstrakten visuellen Formen ein, um ihre persönlichen Inhalte zu transportieren und die Fäden „sprechen zu lassen“, wie sie es in dem eingangs angeführten Zitat betont.

Die hellen Felder im dunklen Bereich weisen wiederum verschiedene Strukturen und Muster auf, welche als Wörter, Glyphen oder Symbole einer unvertrauten Sprache assoziiert werden können. Ancient Writing war offensichtlich ihre Antwort auf die andine Textilkunst, wobei sie den Fokus besonders auf ideographische Zeichen legte. Die geometrischen Einheiten in unterschiedlichen Formaten legen sich als schmale Rechtecke sowie längere und kürzere Bänder und Streifen auf die schwarze Fläche. Bei genauerem Betrachten fällt auf, dass diese Elemente keine monochromen Flächen darstellen, sondern in sich, im Wechsel von zarten schwarz-naturfarbenen Linien, strukturiert sind. Anni Albers machte hier mit diesen scheinbar wahllos angelegten Rechtecken das Spontane erstmals zu einem Teil ihrer Kunst und setzte diese Mittel bewusst und bedacht ein. Ancient Writing markiert zudem auch den Beginn von Albers langer Auseinandersetzung mit ihren sogenannten „pictorial weavings“, jenen Textilstücken, die sie mit dem zusätzlichen Schussfaden gestaltete.[14] Troy nimmt hier sichtlich ihrer Interpretation interessanterweise eine Gegenposition ein, die Albers’ Aussage widerspricht.[15] Ihr zufolge fertigte Albers nie Bilder im traditionellen westlichen Sinne an, weshalb der Ausdruck „abstract pictorial weaving“ die Arbeit von Anni Albers besser beschreiben würde, um diese von der westlichen figurativen Bildweberei zu unterscheiden.[16] Albers schätzte die schwebende Schusstechnik als eine Methode, durch die sie kunstvolle Bildwebereien herstellen konnte, welche sie noch bis in die späten 1960er-Jahre begleiten sollen. Mithilfe dieser Technik wollte sie Kunstwerke schaffen, „that you turn to again and that might possibly last for centuries, as some of the ancient Peruvian things have.“[17] In dieser Zeit begann Anni Albers, sich als Künstlerin und Designerin zu sehen, und trennte mit dem Ausdruck „pictorial weaving“ ihre Webarbeiten ganz klar in zwei Gruppen: Auf der einen Seite stehen ihre Prototypen, die für eine Stoffproduktion vorgesehen waren, und auf der anderen Seite befinden sich ihre einzigartigen kunstvollen Bildwebereien, die sie als Kunstwerke betrachtete.

Die signifikantesten und spannendsten Veränderungen in der Kunst von Anni Albers finden ab den 1950er-Jahren statt. Albers’ Arbeiten aus dieser Zeit reflektieren ihr Interesse an der visuellen Zeichensprache der andinen Völker, welches sich auch im verkleinerten Format ihrer Textilien ausdrückt. Mehr dazu gibt es bald im Teil II von Der Faden als Bedeutungsträger. Die „pictorial weavings“ von Anni Albers.

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Auszug aus meiner Bachelorarbeit zum Thema Der Faden als Bedeutungsträger. Die „pictorial weavings“ von Anni Albers geschrieben bei Univ.Prof. Dr. Friedrich Teja Bach, März 2013


[1] Anm.: Anni Albers (Anneliese Fleischmann) wurde am 12. Juni 1899 in Berlin geboren und starb am 9. Mai 1994 in Orange, Connecticut. Genaue biografische Angaben finden sich in: Csoma 2007 und Weber 1989.

[2] Anm.: Anni Albers, On Designing, Middletown 19622; Anni Albers, On Weaving, Middletown 1965 ; Anni Albers, Pre-columbian mexican miniatures. The Josef and Anni Albers Collection, New York / Washington, 1970.

[3] Virginia Gardner Troy, Thread as Text. The Woven Work of Anni Albers, in: Nicolas Fox Weber / Pandora Tabatabai Ashbaghi (Hg.), Anni Albers (Kat. Ausst., Peggy Guggenheim Collection, Venedig 1999; Josef Albers Museum, Bottrop 1999; u.a.), New York 1999, S. 30.

[4] Josef Albers zit. nach Eine Chronologie, in: Brenda Danilowitz / Heinz Liesbrock (Hg.), Anni und Josef Albers. Begegnung mit Lateinamerika (Kat. Ausst., Josef Albers Museum, Bottrop 2007), Ostfildern 2007, S. 209.

[5] Vg. Anni Albers. Bildweberei – Zeichnung – Druckgrafik (Kat. Ausst., Kunstmuseum Düsseldorf 1975, Bauhaus Archiv Berlin 1975), Düsseldorf 1975. Neben dem Kunstmuseum Düsseldorf wurden ihre Arbeiten in der darauffolgenden Ausstellung im Bauhaus-Archiv in Berlin gezeigt.

[6] Anni Albers, Pictorial Weavings (Kat. Ausst., The Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Mass. 1959), Cambridge, Mass. 1959, o.P. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass es sich bei den „pictorial weavings“ großteils um Bildwebereien handelt, die sowohl gerahmt sind, als auch auf festen Untergrund aufgezogen wurden.

[7] Vgl. Jenny Anger, Dank an Paul Klee, in: Brenda Danilowitz / Heinz Liesbrock (Hg.), Anni und Josef Albers. Begegnung mit Lateinamerika (Kat. Ausst., Josef Albers Museum, Bottrop 2007), Ostfildern 2007, S. 155-159. Im Jahr 1933 emigriert das Künstlerehepaar Anni und Josef Albers in die USA, wo sie 16 Jahre am Black Mountain College in North Carolina unterrichteten. Anni Albers Lehre in der Webwerkstatt sowie ihre zahlreichen Aufsätze und Publikationen, die sich eingehend mit der Herstellung und dem Design von Webarbeiten beschäftigen, hatten einen großen Einfluss auf das amerikanische Textildesign. In diesen Jahren übersetzte Albers Paul Klees Vorlesung Über moderne Kunst, die er 1924 in Jena gehalten hatte ins Englische. Die Transkription blieb zwar unveröffentlicht, jedoch wandte sie am Black Mountain College seine pädagogischen Grundsätze an. In einem Interview aus dem Jahr 1965 unterstreicht Albers noch einmal, dass sie „das meiste über Form von Klee gelernt“ habe.

[8] Vgl. Csoma 2007, S. 206 und Albers 1970, o.P. Das Künstlerehepaar Anni und Josef Albers bereisten Mexiko insgesamt 14 Mal, wobei einige Aufenthalte bis zu drei Monate dauerten. In diesen Jahren begannen sie auch, präkolumbische Kunst zu sammeln. Am Ende umfasste ihre Sammlung über 1000 Objekte aus Keramik, Stein, Jade und Textilfragmenten sowie präkolumbische mexikanische Skulpturen. Josef Albers Interesse für die Kultur und insbesondere die Architektur Südamerikas geht aus den zahlreichen Fotografien hervor, die er collagenartig zusammenstellte.

[9] Als Beispiel soll hier der Wandbehang von 1924 mit den Maßen von etwa 170 x 100 cm genannt werden (Abb. 16). Einzig bei der Größe von Ancient Writing mit rund 150 x 111 cm hält sich Albers noch an die Maße ihrer frühen Werke.

[10] Eine weitere Weberei, die ebenfalls im Jahr 1936 entstand und den Titel Monte Albán (Abb. 18) trägt, produzierte Albers unmittelbar nach dem ersten Besuch in der gleichnamigen Stadt. Hier kann der schwebenden Schuss als „gezeichneter“ Lageplan dieser prähistorischen Stadt gesehen werden. Anni sowie auch Josef Albers waren zutiefst von Mexiko beeindruckt. Wie bereits einleitend: „Mexiko ist wahrlich das gelobte Land der abstrakten Kunst.“

[11] Vgl. Virginia Gardner Troy, Anni Albers and Ancient American Textiles. From Bauhaus to Black Mountain, Aldershot 2002, S. 117. Troy verwendet den englischen Begriff „floating weft“.

[12] Ebd., S. 117-119. Diese gängige andine Technik, die in Lateinamerika noch heute benutzt wird, dürfte Anni Albers in Deutschland bereits vor 1936 gesehen haben. Albers besaß auch eine Vielzahl von Werken, die solche „schwebenden“ Schussfäden als Muster hatten. Ein berühmtes Stück aus der Sammlung von Anni Albers ist ein kleines peruanisches Chancaytextil aus Wolle (Abb. 19), dessen Muster – in einem Raster angeordnet – mit zusätzlicher Verwendung eines Zierfadens gewebt wurde. Das Besondere daran ist, dass es eines der wenigen vollendeten Stücke ist, das Albers besaß. Die Größe entspricht gerade einmal einem Din-A4-Blatt Papier.

[13] Vgl. Mary Jane Jacob, Anni Albers. A Modern Weaver as Artist, in: Nicholas Fox Weber, The Woven and Graphic Art of Anni Albers, Washington, D.C. 1985, S. 90. Mary J. Jacob bezeichnet die hellen Außenteile als „randartigen Saum“.

[14] Vgl. Albers, 1965, S. 67: Anni Albers erwähnt in ihrem Buch On Weaving in dem Kapitel Tapestry, dass eines der frühesten Webereien, die einen schwebenden Schuss aufweist, von Junius Bird im Jahr 1945 in Nordperu gefunden wurde. Das Webstück kann auf 2500 v.Chr. zurückdatiert werden und zeigt einen Vogel, der in Bezug auf die Form und Struktur ein hohes Wissen des Webers voraussetzt. Hier betont sie abermals: „We easily forget the amazing discipline of thinking man had already achieved four thousand years ago. Wherever meaning has to be conveyed by means of form alone, where, for instance, no written language exists to impart descriptively such meaning, we find a vigor in this direct, formative communication often surpassing that of cultures that have other, additional methods of transmitting information. Today words generally carry by far the greatest load of our expressive manifestation.“

[15] Vgl. Troy 2002, S. 121.

[16] Ebd., S. 121. Anm.: Da Albers einen Großteil der kleinen Bildwebereien auf einen festen Untergrund aufzog und einrahmte, könnte die Bezeichnung im wörtlichen Sinne auch als „im-Bild-Weberei“ verstanden werden. Dank einer Ausstellungsansicht, die anlässlich der ersten Einzelausstellung von Anni Albers im Museum of Modern Art im Jahr 1949 aufgenommen wurde, kann diese Technik gut nachvollzogen werden (Abb. 21). Des Weiteren gibt es eine Ausnahme aus dem Jahr 1985, die Anni Albers zeigt (Abb. 22). Hinter ihr hängt – leider abgeschnitten, aber dennoch gut erkennbar – die kleine Bildweberei Open Letter aus dem Jahr 1958.

[17] Albers zit. nach Troy 2002, S. 121.

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