Anna Gölz: Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“, 2019 (Kurztext 9, Universität Hildesheim, Dozentin: Regine Ehleiter)

„VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO” – der Titel dieser Künstlerpublikation setzt sich aus den Flugdaten einer zweimonatigen Reise von Wien nach Tokio zusammen. Für die handliche kleine Publikation, die 2019 im Berliner Revolver-Verlag erschien, sammelte der Wiener Kurator Franz Thalmair in Japan diverses grafisches Material, das er nach seiner Rückkehr fotokopierte, neu arrangierte und Seite für Seite per Hand nachzuzeichnen begann. Die Publikation entstand im Rahmen eines zweiundeinhalbjährigen Forschungsprojektes zum Thema „originalcopy – Postdigitale Strategien der Aneignung” an der Universität der Angewandten Kunst in Wien, das sich der Frage nach Wert und Bedeutung von Original und Kopie im digitalen Zeitalter widmete.

Auf den ersten Blick erinnern die Zeichnungen mit ihren schwarzen Umrandungen und weißen Freistellen an Ausmalbücher. Unter den gefundenen Inhalten sind etwa Origami-Anleitungen und Körperübungen, jeweils zweisprachig unterlegt. Viele Motive beziehen sich im weitesten Sinne auf die japanische Mythologie, Kultur oder Historie. Neben den berühmten Kirschblüten finden sich darunter Adaptionen von Hokusais bekanntem Holzschnitt der großen Welle vor Kanagawa oder typisch japanische Muster, wie das der Schwalben. Traditionelle und zeitgenössische japanische Architektur oder Cartoons, wie Tezukas „Astro Boy“, treffen auf Samurais und manga-ähnliche Charaktere. Zudem taucht immer wieder die Figur des am Schreibtisch in die Arbeit vertieften Zeichners oder Autors auf.

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Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“ (Photo Credit: Studio Kehrer)

Teilweise sind die Motive schwarz gerahmt, teilweise kommentiert, fast immer findet sich unter den japanischen Schriftzeichen eine englische Übersetzung, die teils mit einer Jahreszahl versehen ist. Dabei muten diese „Bildunterschriften“ häufig wie Arbeitstitel oder sogar eine Arbeitsanweisung an: So findet sich zum Beispiel „Cut the Line, 2014” neben einem aus stilisierten Wolken gezeichneten Rahmen. Mehrfach ist „Come and Go, 2014” zu lesen. Über dem Manga-Helden Astro Boy prangt die Textzeile: „It keeps changing / It connects with everything / It goes on forever —”, die, leicht abgewandelt, das Mantra des zeitgenössischen japanischen Künstlers Tatsuo Miyajima aufgreift.

Das Spiel mit den Motiven, das Neuzusammensetzen und Verzerren von allgemein bekannten Symbolen und Figuren hat seinen Reiz. Trotz der Fülle an Motiven, fällt immer wieder der Begriff der Reduktion ein: Sie zeigt sich in der Abwesenheit von Farben, der rein grafischen Umsetzung, der Bildaufteilung mit vielen Freiräumen – fast möchte man Leerstellen sagen. Selbst das Material der Publikation unterstützt diesen Eindruck: Weißes, 60g-schweres Standard-Druckerpapier wurde im Inneren verwendet, passend zum eingesetzten Kopierprozess. Das ist keine kostspielige High-End Publikation, sondern erinnert mehr an ein minimalistisches, zeichnerisches Tagebuch, eine Kladde.

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Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“ (Photo Credit: Studio Kehrer)

Obwohl es im Format also einem regulären, genormten Büchlein fast gleichkommt, fallen doch einige ungewöhnliche formale Eigenschaften der Künstlerpublikation von Franz Thalmair ins Auge: Dem biegsamen Cover, das aus 120g-schwerem Papier besteht, fehlt rechts ein guter Zentimeter zur vollen Breite des Papiers im Inneren. Dadurch wirkt der um 90° gedrehte Titel „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“, passend zum Thema des „Cut and Paste“, wie der Länge nach angeschnitten. Eine weitere Besonderheit sind die Buchinnenseiten: Nach der Methode der „japanischen Bindung“ sind sie doppelt gefaltet, sodass zwischen den Seiten jeweils ein Hohlraum entsteht.

Passend dazu wandern die Zeichnungen über den rechten Bildrand hinaus auf die nachfolgende Seite – würde man sie heraustrennen und die Seiten auffalten, erst dann könnte man die Zeichnung als Ganzes betrachten. Auf das Einfügen von Seitenzahlen wurde genauso verzichtet wie auf eine einheitliche Leserichtung. Vielmehr wechselt diese immer wieder vom Hoch- zum Querformat. Es lassen sich neue Gegenüberstellungen von Motiven und Mustern entdecken. Ist die Publikation geschlossen, so erinnert der Buchblock durch die doppelte Faltung der Seiten an einen QR-Code.

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Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO (Photo Credit: Studio Kehrer)

Original und Kopie, Reproduktionen und Transformationen waren und sind seit langem Bestandteil der Kunst. Gibt es heute überhaupt noch völlig eigene Erschaffungen oder ist nicht nahezu alles weiterverarbeitet, adaptiert, übersetzt? Wie verändern sich durch diese Parameter die Strategien und das Selbstverständnis von Künstler*innen? Franz Thalmair wirft genau diese Fragen auf, noch dazu in Bezug auf neue digitale Technologien. Wo verortet sich Kunst heute? Gibt es überhaupt (noch) klare Grenzen zwischen Original und Kopie? Ist eine Kopie gleich ein Plagiat? Wer kann eine Autorenschaft, wer das Copyright für sich beanspruchen?

Im Impressum wird darauf hingewiesen, dass die Leser*innen eingeladen sind, sich das präsentierte Material anzueignen, es zu teilen oder durch eigene Adaptionen weiterzuverarbeiten. Dadurch kommt die Lust auf, selbst tätig zu werden, Elemente auszuschneiden, zusammenzufügen, einzufärben. Mit all diesen Fragen im Kopf würde ich gerne meine Schere in die Hand nehmen und anfangen, in Franz Thalmairs Publikation herumzuschnippeln, sie bestehen zu lassen und doch zunichte zu machen, meine eigenen Ideen zu materialisieren, weiße Flächen bunt zu füllen, meine eigene Handschrift darunter zu setzen.


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Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“ (Photo Credit: Studio Kehrer)

Franz Thalmair, „VIE 02/01/17 – 03/31/17 TYO“, 2019

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