Swantje Schurig: „Franziska Brandt und Moritz Grünke, „Theory“, 2017 (Kurztext 2, Universität Hildesheim, Dozentin: Regine Ehleiter)

Die Publikation liegt vertraut in der Hand wie ein gewöhnlicher Collegeblock. Beidseitig blau kariertes Papier wird zwischen der Deckseite und einem braun-grauen Papprücken durch eine Drahtspiralbindung zusammengehalten, in der ein weißer Kugelschreiber mit der Aufschrift „Exactly wrong“ klemmt. Statt der Aufschrift „Student“, wie bei dem als Design-Vorlage verwendeten College-Block eines einschlägigen Herstellerunternehmens, ist auf der Deckseite das Wort „Theory“ dreimal hintereinander geschachtelt angeordnet. Das Layout, die Farbgebung und sonstige Gestaltung sind der Vorlage sehr ähnlich, beinahe deckungsgleich. Ein Strichcode an der oberen linken Seite befindet sich gegenüber von der „Wire-O-Binding“-Reklame auf der rechten Seite – ebenfalls als Referenz auf das Original. Auch die groß in einen weißen Kreis gesetzte Seitenzahl „80“ und andere Informationen zu Papiergröße und -qualität, selbst die unauffällige Produktionsnummer, decken sich.

Neben dem Wortlaut des Titels macht ein jedoch Zitat an der roten Abrisslinie des Deckblattes auf den Unterschied aufmerksam: „Have and take or give and get“ steht genauso unauffällig und klein wie die Produktionsnummer an der roten Linie. Auch qualitativ lässt sich ein deutlicher Unterschied fühlen: Die Rückpappe ist viel dicker und zeigt, dass die vier Löcher manuell gestanzt wurden (die Pappe ist rund um die Löcher eingedrückt, die oberen nach innen, die anderen nach außen). Diese vier Heftlöcher finden sich auf jeder Seite des Blocks, analog zum Vorbild. Die karierten Seiten zeigen zwar eine ähnliche Aufteilung der Kästchen, sind jedoch viel kräftiger und mit blauer Tinte gedruckt. Hält man eine Seite gegen das Licht, fällt außerdem auf, dass Vorder- und Rückseite des mit Kästchen bedruckten Papiers nicht deckungsgleich sind. Diese Verschiebung im Karomuster bleibt über den Block nicht gleich – bei genauem Hinsehen kann man also deutlich erkennen, dass dieser Block nicht industriell hergestellt worden sein kann, sondern die Besonderheiten einer Produktion in Handarbeit aufweist.

Er verbindet also den äußeren Eindruck eines Massenproduktes mit den Feinheiten einer manuell hergestellten Künstlerpublikation. Die Drahtbindung ist fester und wertiger, das Blau des Deckblattes ist ungleichmäßig und flirrt. Er ist matt gedruckt, anders als sein Hochglanz-Äquivalent. Die genaue Betrachtung könnte dem Druckspezialisten auch dies verraten: „Theory“ wurde mit Hilfe eines Risographen gedruckt: Jede Seite, jedes Quadrat der Deckseite sieht ein wenig anders aus als sein Vorgänger.

Der pseudo-industrielle Look, die Kugelschreiber-Beschriftung sowie der Titel „Theory“ liefern allesamt Hinweise auf eine 2015 erschienene, gleichnamige Publikation des New Yorker Schriftstellers und Künstlers Kenneth Goldsmith: Sie besteht aus 500 mehr oder weniger leeren, losen Seiten, die äußerlich wie ein schlichter Stapel Kopierpapier verpackt sind. Innen abgedruckt findet sich einzig die Formulierung „exactly wrong“, mit der Goldsmith einen eigenen, Jahre zuvor erschienenen Essay zitiert. Mit ihrer Bezugnahme auf „Theory“ setzen Franziska Brandt und Moritz Grünke diese Schlaufe der Appropriation und Neuinterpretation nun fort, doch es bleibt nicht bei diesem einen Zitat.

Auch die auf dem Cover des Blocks abgedruckte Phrase „Have and take or give and get“ lässt sich auf ein konzeptuelles Vorbild zurückführen: Sie ist einem Künstlerbuch von Lawrence Weiner entnommen, das im Jahr 2000 erschien und folgenden (langen) Titel trug: „The Society Architect Ponders the Golden Gate Bridge – oder: wie sie kriegen, was sie nicht verdienen“. Franziska Brandts und Moritz Grünkes „Theory“ ist also ein Künstlerbuch über Künstlerbücher, es hat konzeptuellen Anspruch, will über Bestehendes erzählen, während es Neues aufgreift. Es entstand 2017 während des Workshops „Book on Books“ an der ACUD Galerie in Berlin – das Thema wurde zweifellos getroffen.

 


Künstlerbuch: Franziska Brandt und Moritz Grünke, „Theory“, 2017

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